Rechtsschutzversicherer muss Dieselverfahren decken

Das Landgericht Deggendorf (9a. Zivilkammer), Urteil vom 28.08.2023 – 9a O 273/22 hat klargestellt, dass ein Rechtsschutzversicherer Deckung für ein Klageverfahren gegen VW im Dieselskandal erteilen muss. Das Urteil betraf den Motor EA 288.

 

Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde:

 

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Die Parteien streiten über die Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung von Deckungsschutz aus einem Rechtsschutzversicherungsvertrag im Zusammenhang mit der Diesel-Abgas-Problematik.

 

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Der Kläger ist über seine Ehefrau bei der Beklagten rechtsschutzversichert. Auf den Vertrag finden die ARB 2000 Anwendung.

 

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Er erwarb am 06.01.2015 einen PKW VW Golf Sportsvan, Erstzulassung 19.02.2015, zu einem Preis von 26.542,08 €. In dem Fahrzeug ist der Motor des Typs EA288 verbaut. Das Fahrzeug war nicht von einem Rückruf des Kraftfahrt-Bundesamts betroffen.

 

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Mit Schreiben vom 08.10.2021 (Anlage K5) bat er über die Rechtsanwälte ... um die Erteilung einer Deckungszusage für die außergerichtliche und gerichtliche Geltendmachung von Ansprüchen gegenüber der VW AG.

 

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Mit Schreiben vom 12.10.2021 (Anlage K6) forderte die Beklagte weitere Informationen an. Der Kläger übersandte den Entwurf einer Klageschrift.

 

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Die Beklagte lehnte mit Schreiben vom 21.10.2021 (Anlage K7) die Deckung wegen fehlender Erfolgsaussichten ab.

 

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Der Kläger veräußerte das Fahrzeug am 06.01.2022 zu einem Preis von 9.700,00 € weiter.

 

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Der Kläger ist der Ansicht, die Beklagte sei zur Gewährung von Deckungsschutz verpflichtet. Es sei Deckungsfiktion nach § 128 Satz 3 VVG eingetreten, da das Ablehnungsschreiben nicht den Anforderungen des § 128 Satz 2 VVG entsprochen habe. Im Schreiben vom 12.10.2021 fehle der erforderliche Hinweis vollständig. Es handele sich faktisch um ein Ablehnungsschreiben. Der Hinweis im Schreiben vom 21.10.2021 sei unzureichend, da er lediglich die ARB zitiere, aber nicht erläutere. Der Hinweis sei zudem im Fließtext versteckt, verweise nicht auf die Versicherungsbedingungen, nenne das Stichentscheidsverfahren nicht und setze eine unzulässige Frist. Er sehe eine widersprüchliche Kostenregelung vor. Jedenfalls aber bestünden Erfolgsaussichten. Hierzu behauptet er, in dem PKW seien illegale Abschalteinrichtungen verbaut. So sei im streitgegenständlichen Fahrzeug eine Manipulation des Stickoxidspeicherkatalysators („NSK“) umgesetzt. Dem NSK komme die Funktion zu, schädliche Stickoxid-Emissionen aufzufangen, damit diese nicht mit den Abgasen in die Umwelt gelangten. Gelange das Fahrzeug auf den NEFZ-Prüfstand, stelle sich der Zähler unabhängig des eigentlichen NSK-Zustandes dank einer Standardeinstellung auf „0“, sodass der Katalysator länger emissionsarm – ohne Regeneration – betrieben werden könne. Daneben verfüge das Fahrzeug auch über ein sog. Thermofenster, das die Abgasreinigung bei niedrigen Temperaturen herunterfahre oder abschalte. Jedenfalls die Entscheidung des EuGH vom 21.03.2023 rechtfertige die Annahme von Erfolgsaussichten für das Klageverfahren.

 

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Er beantragt, festzustellen,

 

dass die Beklagte aus dem mit der Klägerpartei geschlossenen Rechtsschutzschutzversicherungsvertrag mit der Versicherungsnummer verpflichtet ist, für die außergerichtliche und erstinstanzliche Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen die V. AG aufgrund des Fahrzeugkaufs vom 6. Januar 2015 Deckungsschutz gewähren.

 

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Die Beklagte beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

11

Sie bestreitet das Vorhandensein illegaler Abschalteinrichtungen. Sie ist der Ansicht, sie sei nicht zur Gewährung von Deckungsschutz verpflichtet. Jedenfalls bestehe kein Anspruch auf Deckungsschutz für die außergerichtliche Tätigkeit, da diese erkennbar aussichtslos sei. Die Forderung sei aufgrund der zwischenzeitlichen Veräußerung des PKW auch überhöht, da dem Kläger allenfalls ein Anspruch auf Zahlung des Differenzbetrages zwischen Kaufpreis und Verkaufspreis unter Abzug der Nutzungsentschädigung zustehen könne. Sie bestreitet eine ordnungsgemäße Bevollmächtigung der klägerischen Prozessbevollmächtigten.

 

12

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen verwiesen.

 

 

Das Landgericht hat die Klage wie folgt begründet:

 

13

Die Klage ist zulässig und begründet.

 

14

Der Feststellungsantrag ist zulässig. Der Versicherer hat sich zur Übernahme der Rechtsverfolgungskosten verpflichtet (Ziff. 3.2.1 ARB). Es handelt sich um einen Befreiungs-, nicht um einen Zahlungsanspruch (Münchener Anwaltshandbuch Versicherungsrecht, 5. Aufl., § 27 Rn. 187).

 

15

Es ist von einer ordnungsgemäßen Bevollmächtigten der klägerischen Prozessbevollmächtigten für das vorliegende Klageverfahren auszugehen. Es liegt eine Original-Vollmacht vor, mit der der Kläger unter dem 15.09.2022 den Rechtsanwälte K. L. Vollmacht zur außergerichtlichen und gerichtlichen Vertretung zur Durchsetzung der Rechte aus dem Rechtsschutzversicherungsvertrag mit erteilt hat.

 

16

Die Klage ist auch begründet.

 

17

Zwischen den Parteien besteht unstreitig ein Rechtsschutzversicherungsvertrag. Auf diesen finden die ARB 2000 Anwendung (Anlage B2).

 

18

Die Beklagte war nicht berechtigt, Deckungsschutz wegen fehlender Erfolgsaussichten abzulehnen.

 

19

Es dürfte bereits nach § 128 Satz 3 VVG das Rechtsschutzbedürfnis als anerkannt gelten. Der Hinweis der Beklagten im Ablehnungsschreiben vom 21.10.2021 war nicht ausreichend. Es wurde zwar ausdrücklich und an markanter Stelle am Schluss des Schreibens auf das nach § 18 ARB 2000 allein vorgesehene Schiedsgutachterverfahren hingewiesen. Insoweit bedurfte es weder eines ausdrücklichen Verweises auf die ARB noch einer wörtlichen Wiedergabe der entsprechenden Regelung. Vielmehr war und ist es dem durchschnittlichen Versicherungsnehmer zuzumuten, selbst in den Versicherungsbedingungen nachzuschauen, zumal die Klausel einfach aufzufinden und übersichtlich gestaltet ist. Eine umfassende Erläuterung im Ablehnungsschreiben ist nicht erforderlich (OLG Düsseldorf, Urteil vom 28.6.2019, I-4 U 111/17, juris).Allerdings ist, wie die Klägerseite zutreffend rügt, der Hinweis auf die Kostentragungspflicht unzutreffend. In § 18 Abs. 5 ARB 2000 ist vorgesehen: „Die Kosten des Schiedsgutachterverfahrens trägt der Versicherer, wenn der Schiedsgutachter feststellt, dass die Leistungsverweigerung des Versicherers ganz oder teilweise unberechtigt war. War die Leistungsverweigerung nach dem Schiedsspruch berechtigt, trägt der Versicherungsnehmer seine Kosten und die des Schiedsgutachters. Die dem Versicherer durch das Schiedsgutachterverfahren entstehenden Kosten trägt dieser in jedem Falle selbst.“ Der Hinweis im Schreiben vom 21.10.2021 lautet jedoch: „Die Kosten des Schiedsgutachtens tragen wir unabhängig vom Ergebnis.“ Der Hinweis war damit fehlerhaft.

 

20

Es bestehen jedenfalls auch hinreichende Erfolgsaussichten.

 

21

Abzustellen ist für die Beurteilung der Erfolgsaussicht auf die Voraussetzungen, nach welchen einem bedürftigen Kläger unter dem Gesichtspunkt hinreichender Erfolgsaussicht nach § 114 ZPO Prozesskostenhilfe zu bewilligen wäre. An die Prüfung der Erfolgsaussichten dürfen keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht bereits dann, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt der Partei für vertretbar hält und von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist. Das Erfordernis hinreichender Erfolgsaussicht darf nicht dazu führen, dass die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung vom Hauptsacheverfahren in den Deckungsprozess verlagert wird. Für die beabsichtigte Rechtsverfolgung besteht in der Regel schon dann hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn die Entscheidung von der Beantwortung schwieriger Rechts- und Tatfragen abhängt. Bei der Beantwortung der Frage, ob in tatsächlicher Hinsicht eine Möglichkeit der Beweisführung besteht, genügt es für die Bejahung der Erfolgsaussicht grundsätzlich, dass eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil der bedürftigen Partei ausgehen wird (vgl. etwa BeckOK ZPO/Reichling § 114 ZPO Rn. 28 ff. m.w.N.). Ebenso zu fordern ist eine gewisse Substanz des klägerischen Vorbringens.

22Nach dem Bundesgerichtshof (vgl. Beschluss vom 23.02.20222, Az.: VII ZR 602/21) dürfen die Anforderungen an ein substantiiertes Vorbingen nicht überspannt werden. Ein Sachvortrag zur Begründung eines Anspruchs ist bereits dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Sind diese Anforderungen erfüllt, ist es Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Januar 2012 – 1 BvR 1819/10, WM 2012, 492, juris Rn. 16; BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 – VI ZR 128/20 Rn. 20, WM 2021, 1609; Urteil vom 18. Mai 2021 – VI ZR 401/19 Rn. 19, MDR 2021, 871; Beschluss vom 28. Januar 2020 – VIII ZR 57/19 Rn. 7, ZIP 2020, 486; Beschluss vom 26. März 2019 – VI ZR 163/17 Rn. 11, VersR 2019,835; jeweils m.w.N.).

 

23

Diese Grundsätze gelten insbesondere dann, wenn die Partei keine unmittelbare Kenntnis von den ihrer Behauptung zugrunde liegenden Vorgängen hat. Eine Partei darf auch von ihr nur vermutete Tatsachen als Behauptung in einen Rechtsstreit einführen, wenn sie mangels entsprechender Erkenntnisquellen oder Sachkunde keine sichere Kenntnis von Einzeltatsachen hat. Unbeachtlich ist der auf Vermutungen gestützte Sachvortrag einer Partei erst dann, wenn die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt. Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist allerdings Zurückhaltung geboten. In der Regel wird sie nur bei Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte vorliegen (BGH, Urteil vom 13. Juli 2021 – VI ZR 128/20 Rn. 21 f. m.w.N, WM 2021, 1609; BGH Beschluss vom 23.2.2022 – VII ZR 602/21, BeckRS 2022, 8085 Rn. 17, 18, beck-online).

 

 

24

Mit Blick auf obergerichtliche Rechtsprechung ist Erfolgsaussicht im vorgenannten Sinne anzunehmen.

 

25

Das Oberlandesgericht Köln hat mit Urteil vom 10.03.2022, 24 U 112/21 (juris) einer Schadensersatzklage wegen eines Motors des Typs EA288 stattgegeben. Darin hat es ausgeführt, in der dort unstreitig programmierten Prüfstandserkennung liege eine unzulässige Abschalteinrichtung, für die die dortige Beklagte nach § 826 BGB hafte. Auch das OLG Düsseldorf hat Erfolgsaussichten nicht als ausgeschlossen erachtet (Beschluss vom 16.02.2021, 23 U 159/20, juris). Die Klägerseite hat weitere Rechtsprechung benannt, die Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit dem Motortyp EA288 bejaht hat. Nach der jüngsten Entscheidung des EuGH vom 21.03.2023 und BGH vom 26.06.2023 (VIa ZR 335/21) sind die Anforderungen an die Schadenersatzverpflichtung der Motorenhersteller zudem noch geringer, als die Rechtsprechung dies bislang angenommen hat.

 

26

Nach dem Maßstab des Deckungsprozesses unter Berücksichtigung der vorgenannten obergerichtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung kann das Gericht daher nicht erkennen, dass die Rechtslage hinsichtlich des verfahrensgegenständlichen Fahrzeugtyps so weit zugunsten des Fahrzeugherstellers geklärt wäre, dass die Gewährung von Rechtsschutz für das Klageverfahren wegen fehlender Erfolgsaussicht versagt werden könnte.

27Die gilt auch für den maßgeblichen Bewilligungszeitpunkt. Der Zeitpunkt der Beurteilung der Erfolgsaussicht richtet sich nach der Bewilligungsreife, also nach dem Zeitpunkt, in dem der Rechtsschutzversicherer seine Entscheidung trifft (Harbauer/Schmitt VVG, § 3a ARB, Rn. 13, OLG Schleswig, NJW-RR 2022, 1118). Wie die Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zeigt, hätten jedenfalls bei einem Zug durch die Instanzen gegebenenfalls Erfolgsaussichten bestanden. Es verbleibt insoweit bei dem Grundsatz, dass hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht, wenn die Entscheidung von der Beantwortung schwieriger Rechts- und Tatfragen abhängt.

 

28

Soweit die Beklagte einwendet, der Klageantrag gegen die Herstellerin biete bereits deshalb keine Aussicht auf Erfolg, weil der PKW zwischenzeitlich veräußert worden sei, der Antrag aber nicht entsprechend umgestellt worden sei, ist dies vorliegend ohne Belang. Zum maßgeblichen Bewilligungszeitpunkt war der PKW noch nicht veräußert und der Antrag entsprach der vorstehend genannten Rechtsprechung.

 

29

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs. 1, 709 Satz 1 ZPO. Im Hinblick auf den durch den zwischenzeitlichen Verkauf des PKW nur noch „reduzierten“ möglichen Anspruch des Klägers gegenüber der VW AG tritt keine maßgebliche Änderung des Prozesskostenrisikos ein.

 

Streitwert: 8.891,28 €