Klickpedale lösen beim MTB kein Mitverschulden aus

Das OLG Schleswig hat mit Urteil vom 28.09.2021 (Az.: 7 U 29/16) klargestellt, dass eine Geschwindigkeit von bis zu 16 km/h und die Nutzung von sog. Klickpedalen auf einem unebenen und unbefestigten Feldweg („Cross-Country-Bereich“) grundsätzlich keine Obliegenheitsverletzung eines erfahrenen Mountainbikefahrers darstellen. Die als Werkseinstellung übliche „mittlere Einstellung“ der Federspannung ist auch für den Einsatz im Cross-Country-Bereich nicht zu beanstanden. Dem über einen Stacheldraht gestürzten und querschnittsgelähmten Kläger sprach das Oberlandesgericht ein Schmerzensgeld von 800.000,00 € zu.

Der dem Fall zugrunde liegende Sachverhalt lautet:

 

Der seinerzeit 35 Jahre alte Kläger war als Marineoffizier bei der Bundeswehr in X. tätig.

 

Am Unfalltage war der Kläger mit seinem Fahrrad, einem Mountainbike, unterwegs, um die Umgebung zu erkunden. Er kam dabei in das Gemeindegebiet der Beklagten zu 1). Gegen 17:00 Uhr befuhr er einen vom H.-weg abgehenden Feldweg, der in einem Waldstück endet. Für den H.-weg gilt das Verkehrszeichen 260 (Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO; Verbot für Kraftfahrzeuge). Über die Örtlichkeiten hatte sich der Kläger zuvor mittels einer Karten-App auf seinem I-Phone kundig gemacht.

 

Auf dem Feldweg befand sich nach rund 50 m ein sogenanntes Ziehharmonika-Heck. Dies war so ausgebildet, dass in der Mitte des Weges an zwei vertikalen Holzstäben wiederum das Verkehrszeichen 260 befestigt war. Die Konstruktion wurde gehalten durch zwei quer über den Weg laufende Stacheldrähte in einer Höhe von circa 60 und 90 cm, wobei die Stacheldrahtreihen auf der linken Seite (aus Fahrtrichtung des Klägers gesehen) fest an einem Pfosten angeschlagen waren, rechts mittels eines Drahtes an einem weiteren Pfosten befestigt waren, dort aber gelöst werden konnten. Wegen der Einzelheiten wird auf die Lichtbilder Bl. 10, 16, 17 und 25 der beigezogenen Ermittlungsakte Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Y. AZ: … verwiesen.

 

Der Kläger bemerkte den über den Weg gespannten, doppelten Stacheldraht, es gelang ihm aber nicht, sein Fahrrad noch rechtzeitig vor der Absperrung zum Stehen zu bringen; die Einzelheiten insoweit sind streitig. Infolge einer (Voll-)Bremsung - Bremsspur in Länge von 1,10 m (Bl. 13 d. BA) - stürzte der Kläger in das Ziehharmonika-Heck hinein. Ausweislich der Ermittlungsakte befand sich „circa 2 m vor dem Stacheldraht eine Bremsspur mit einer Länge von circa 1,10 m“. Der Kläger stürzte kopfüber links des Verbotsschildes in den Stacheldrahtzaun und blieb mit seiner Kleidung daran hängen. Er konnte sich anschließend nicht mehr bewegen. Erst gegen 19.20 Uhr erschien am Unfallort zufällig der Beklagte zu 2), der sofort die Rettungskräfte und die Polizei alarmierte. Beim Eintreffen der Rettungskräfte lag der Kläger bäuchlings mit seinen Armen unter dem Körper über dem zweifach gespannten Stacheldrahtzaun, das Fahrrad lag teilweise auf seinem Rücken.

 

Durch den Sturz erlitt der Kläger einen Bruch des Halswirbels und als Folge davon eine komplette Querschnittslähmung unterhalb des 4. Halswirbels. [...]

 

Der Feldweg, auf dem sich die vorgenannte Absperrung befand, gehört zum Eigentum der Beklagten zu 1). Der ehemalige ehrenamtliche Bürgermeister der Gemeinde …, der Zeuge B., hatte regelmäßig (circa 2-3 Mal vierteljährlich) nach der Absperrung geschaut. Auch die Beklagten zu 2) und 3) nutzten regelmäßig als Jagdpächter die vorgenannte Absperrung, um zu der dahinter gelegenen Wildwiese zu gelangen, auf der sich ihr grüner Jagdwagen befand [...]

 

 

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, alle drei Beklagten seien verkehrssicherungspflichtig, die Beklagte zu 1) als Eigentümerin des Feldweges, die Beklagten zu 2) und 3) als Jagdpächter. Der Kläger hat behauptet, die Beklagten zu 2) und 3) hätten etwa ein Jahr vor dem hier in Rede stehenden Vorfall den Stacheldraht der Absperrung erneuert; es handele sich um eine jagdliche Einrichtung, da die Absperrung (auch) der Wildruhe gedient habe. Die Stacheldrahtabsperrung sei erst aus einer Entfernung von höchstens 8 m erkennbar gewesen. Die Beklagten seien ihm daher zur Zahlung eines Schmerzensgeldes verpflichtet, für das er eine Mindestvorstellung in Höhe von 500.000,00 € angegeben hat.

 

 

Das Oberlandesgericht urteilte wie folgt:

 

Die Beklagte zu 1) hat hinsichtlich der Feldheckabsperrung die sie treffende Verkehrssicherungspflicht verletzt.

 

Als Eigentümerin des Feldweges, auf dem sich der Radfahrunfall ereignete und Trägerin der Straßenbaulast gemäß §§ 9 Abs. 1, 10 Abs. 4, 13 Straßen- und Wegegesetz des Landes Schleswig-Holstein (StraßenWGSH) ist sie für die Sicherheit von Gemeindestraßen, wozu auch der Feldweg zählt, verantwortlich.

 

Die Beklagten zu 2) und 3) haften als zum Unfallzeitpunkt zuständige Jagdpächter für die Verkehrssicherheit der Feldheckabsperrung. Denn bei dem Ziehharmonika-Heck handelt es sich um eine „jagdliche Einrichtung“ i.S.v. § 26 Abs. 1 Landesjagdgesetz SH.

 

Die Beklagte zu 1) ist als Eigentümerin und Trägerin der Straßenbaulast gemäß §§ 9 Abs. 1, 10 Abs. 4, 13 Straßen- und Wegegesetz des Landes Schleswig-Holstein (StrWG SH) grundsätzlich für die Sicherheit von Gemeindestraßen verantwortlich. Dazu gehört auch der Feldweg in der Gemeinde …, auf dem sich der Radfahrunfall ereignete. Nach § 9 Abs. 1 StrWG SH muss der Träger der Straßenbaulast dafür einstehen, dass seine Bauten allen Anforderungen der Sicherheit genügen. Dem Träger der Straßenbaulast obliegt auch eine Überwachungspflicht gemäß § 10 Abs. 4 StrWG SH. Die Beklagte zu 1) hat die ihr obliegende Unterhaltungs- und Überwachungspflicht verletzt. Die Absperrung (bestehend aus dem Ziehharmonika-Feldheck mit zwei Stacheldrähten in Höhe von 57 bzw. 91 cm) und dem mittig angebrachten Verkehrszeichen 260 (Verbot für Kraftfahrzeuge aller Art) war nicht nur „ungewöhnlich“, sondern stellte auch eine offensichtliche Gefahrenquelle für Fußgänger und Radfahrer dar. Gemäß § 45 Abs. 3 StVO bestimmen die Straßenverkehrsbehörden, wo und welche Verkehrszeichen oder auch Gefahrzeichen anzubringen sind. Bei der Gemeinde …, die die Aufstellung der vorgenannten Absperrung genehmigt und geduldet hat, handelt es sich unstreitig nicht um die zuständige Straßenverkehrsbehörde. Der doppelte Stacheldraht, der quer über den Weg gezogen war, war nicht markiert und deshalb - ausweislich der Ermittlungsakte - erst aus einer Entfernung von circa 10 m erkennbar. Derjenige, der eine Gefahrenlage schafft (bzw. verantwortet), ist grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern. Die rechtlich gebotene Verkehrssicherung umfasst diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren. Dabei sind diejenigen Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, die Schädigung anderer tunlichst abzuwenden. Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt im Sinne von § 276 Abs. 2 BGB (Fahrlässigkeitsmaßstab) ist nur dann genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält. Es sind deshalb diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger des betroffenen Verkehrskreises (hier Gemeinde als Straßenbaulastträger, Jäger, anliegende Landwirte, Freizeitsportler) für ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schäden zu bewahren und die nach den Umständen zuzumuten sind.

 

Diesen Maßstäben wird die streitgegenständliche Feldheckabsperrung nicht gerecht. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Absperrung zum Unfallzeitpunkt offenbar schon seit mehr als 20 Jahren (seit Ende der 80er Jahre) bestand und bis dahin noch nichts passiert war. Auch schon zur Unfallzeit -im Sommer 2012- war Freizeitsport, wie Mountainbike-Fahren, zunehmend verbreitet, zumal die Feldmark in der Gemeinde … bereits zum Einzugsbereich der Großstadt X. gehört. Gerade Feld- und Waldwege gehören zu den bevorzugten Flächen dieser Freizeitsportler und nach dem Aufkommen der Mountainbikes sind gerade Radfahrer in zunehmender Zahl auf derartigen Wegen anzutreffen (vgl. OLG Köln, Urteil vom 23.01.1998, VersR 1998, 860-862, juris Rn. 35). Diese Veränderung im Freizeitverhalten hätte auch die Beklagte zu 1) als Eigentümerin und Trägerin der Straßenbaulast zur Kenntnis nehmen und sich im Rahmen des Zumutbaren darauf einstellen können. Dazu gehört es, die Absperrung von öffentlich zugänglichen Wegen mit dünnen und daher zwangsläufig leicht zu übersehenden Stacheldrähten entweder ganz zu vermeiden oder aber sie als Gefahrenquelle zumindest deutlich zu kennzeichnen. Es wäre ohne Schwierigkeiten durchaus möglich gewesen, besser erkennbare und einfacher zu handhabende Absperrmittel (wie z. B. rot-weiß markierte Balken, Ketten oder Tore) zu verwenden. Damit wäre die Gefahr, dass Wegenutzer, wie der geschädigte Mountainbike-Fahrer, an der Absperrung zu Fall kommen, erheblich herabgesetzt. Der Zustand der Absperrung war der Beklagten zu 1) jahrelang bekannt. Insoweit muss sie sich die Kenntnis ihres ehemaligen Bürgermeisters, des Zeugen B., zurechnen lassen. Die Gemeinde … hatte der Errichtung der Absperrung durch den ehemaligen Jagdpächter A. Ende der 80er Jahre ausdrücklich zugestimmt, um auch einer illegalen Müllentsorgung in der dahinter liegenden Feldmark vorzubeugen. Ausweislich der Bekundungen des Zeugen B. im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren (StA Y. AZ.: …) hatte der Zeuge in seiner Zeit als ehrenamtlicher Bürgermeister regelmäßige Kontrollfahrten in die Feldmark unternommen und darauf geachtet, dass die Absperrung weiterhin besteht. Im Zuge seiner zeugenschaftlichen Anhörung am 14.03.2017 hat er dies zwar etwas relativiert und erklärt, nur „ungefähr 2-3 mal vierteljährlich an der Absperrung gewesen zu sei“ (Bl. 361 d. A.). Dies reicht jedoch aus, um der Beklagten zu 1) entsprechende Kenntnisse vom Zustand der Feldheckabsperrung zuzurechnen. Die Beklagte zu 1) hat mithin die gefährliche Feldheckabsperrung nicht nur jahrelang geduldet, sondern offenbar auch die Funktionsfähigkeit der Absperrung regelmäßig überprüft.

 

[...]

2.

Ein Mitverschulden des Klägers im Sinne von § 254 Abs. 1 BGB - das nach den Erwägungen des Bundesgerichtshofs ohnehin nur zu einer Anspruchsminderung von allenfalls 25% führen könnte, und sich allein auf den Umstand der Verwendung von Klickpedalen auf einem „holprigen“ Feldweg beziehen könnte (BGH, a.a.O. Rn. 47/48) - scheidet nach dem Ergebnis der ergänzenden Beweisaufnahme sowie der persönlichen Anhörung des Klägers aus. Ohnehin wäre ein Mitverschulden nur einer der Bemessungsfaktoren eines zuzuerkennenden Schmerzensgeldes gewesen.

 

Nach den schriftlichen und mündlichen Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. M. sowie der Anhörung des Klägers ergibt sich weder aus der generellen Verwendung des Klickpedalsystems am Unfalltag noch aus der konkreten Art und Weise der Benutzung des Systems durch den Kläger der Vorwurf eines Mitverschuldens im Sinne der Verletzung einer dem Kläger sich selbst gegenüber bestehenden Obliegenheit.

 

Der Sachverständige Dipl.-Ing. M. hat in seinem schriftlichen Gutachten ausgeführt, dass die Nutzung der Klickpedale statt der „normalen“ Pedale auf einem unebenen und unbefestigten Feldweg („Cross-Country-Bereich“) grundsätzlich nicht zu beanstanden sei. Sowohl das vom Geschädigten verwendete Fahrrad als auch das Klickpedalsystem des Herstellers Shimano mit der Handelsbezeichnung PD-A 530 seien für den Einsatz im Cross-Country-Bereich vorgesehen; die vom Geschädigten seinerzeit verwendeten Mountainbikeschuhe (Hersteller Diadora, Handelsbezeichnung X-Country 2) seien für die Verwendung in dem Klickpedalsystem geeignet gewesen.

 

Für die Verwendung der „normalen“ Pedalseite hingegen sei das Schuhwerk weniger gut geeignet gewesen. Die sog. Flatpedalseite hätte der Geschädigte aber angesichts der zum Unfallzeitpunkt herrschenden Boden- und Sichtverhältnisse auch nicht nutzen müssen. Es sei für den erfahrenen Nutzer eines Klickpedalsystems auch nicht üblich, im Wald und/oder auf unbefestigten, unebenen und unbekannten Feldwegen statt des Klickpedalsystems die „normalen“ Pedalen zu benutzen.

 

Ein Nachteil der Nutzung von Klickpedalen ist zwar, dass das Lösen der Füße aus dem Pedalsystem eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt. Diese Zeitspanne hat der Sachverständige aufgrund eigener Versuche, in Ermangelung in der Literatur vorhandener Daten, mit etwa 0,2 Sekunden angegeben. Ermittelt hat der Sachverständige diesen Wert mit Hilfe eines erfahrenen Mountainbike-Fahrers.

 

Selbst wenn der Kläger jedoch die „normale“ Pedalseite (Flatpedal) - ggf. mit dafür geeignetem Schuhwerk - genutzt hätte, hätte er mit höherer Wahrscheinlichkeit einen Überschlag und den Sturz in das Stacheldrahthindernis nicht verhindern können; der Unfallhergang wäre - so der Sachverständige - im Wesentlichen wegen der Behinderung durch den Draht identisch gewesen.

 

Der Kläger hat erklärt, bei Übernahme des Fahrrades durch ihn seien die Klickpedalen bereits am Fahrrad montiert gewesen. Die Federspannung (Auslösehärte) der Pedale sei vom Fahrradhändler eingestellt gewesen. Mit dieser voreingestellten Federspannung sei er gut zurechtgekommen. Er erinnere nicht, ob er diese überhaupt bis zum Unfalltage verstellt habe. Seine Fahrradtouren nach Übernahme des Fahrrades habe er auch dazu genutzt, quasi „drillmäßig“ das Ein- und Ausklicken aus den Pedalen zu trainieren, beispielsweise vor roten Ampeln bis zu 10 Mal pro Seite. Zwar verkennt der Senat nicht, dass der Kläger ein (erhebliches) Eigeninteresse an dem Ausgang dieses Rechtsstreits hat. Gleichwohl hält der Senat seine Angaben für glaubhaft. So ist es ohne weiteres nachvollziehbar, dass er sich nach mehr als neun Jahren, in denen sein Leben durch den tragischen Unfall quasi „auf den Kopf“ gestellt wurde, nicht mehr daran erinnern konnte, ob er überhaupt nach Übernahme des Fahrrades die Einstellung der Federspannung an den Klickpedalen verändert hatte. Weiter hat er angegeben, mit der vom Fahrradhändler ausgeführten Voreinstellung der Federspannung sei er gut zurechtgekommen. Dies korrespondiert mit den Angaben des Sachverständigen M., der im Hinblick auf die Auslösespannung der Klickpedale ausgeführt hat, dass ein Fahrer, der mit einer Einstellung gut zurechtkommt, diese auch beibehalte. Aus seiner eigenen Erfahrung wisse er, dass die Differenzen bei der Einstellung auch relativ gering seien. Es sei auch nicht üblich, die Auslösespannungen bei einem Fahrrad, wie es der Kläger genutzt habe, jeweils zwischen Einsatz auf der Straße und im Cross-Country-Bereich zu verändern. Die als Werkseinstellung übliche „mittlere Einstellung“ sei für den Einsatz im Cross-Country-Bereich in Ordnung.

 

4Insofern geht der Senat davon aus, dass der Kläger tatsächlich die voreingestellte Federspannung, mit der er ja gut zurechtkam, nicht geändert hat. Gleichfalls nimmt der Senat ihm ab, dass er „drillmäßig“ - wie er es ja als seinerzeitiger Marineoffizier gewohnt war -, das Ein- und Aussteigen aus den Klickpedalen geübt hat.

 

Da der Kläger - unstreitig - das Fahrrad nahezu täglich für seine Fahrten zum Dienst und an den Wochenenden für Fahrten in die Umgebung genutzt hat, war er zum Unfallzeitpunkt jedenfalls nicht mehr unerfahren im Umgang mit dem Mountainbike und dem Klickpedalsystem.

 

Dem Kläger kann danach nicht der Vorwurf eines individuellen Fehlverhaltens bei der konkreten Nutzung des Klickpedalsystems zum Unfallzeitpunkt gemacht werden.

 

Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. M. bestand auch grundsätzlich kein Anlass, in der konkreten Situation vor dem Unfall das Klickpedalsystem nicht zu nutzen. Insoweit stimmen im Übrigen der gerichtlich bestellte Sachverständige Dipl.-Ing. M. und der Parteigutachter Dipl.-Ing. W. überein; letzterer hat in seiner Stellungnahme vom 24.03.2021 (Bl. 691 ff. d. A.) u.a. ausgeführt (Bl. 695 d. A.): „… Die weiteren Ausführungen des Sachverständigen M., wonach die Verwendung eines Klickpedalsystems im Cross-Country-Einsatz vorgesehen und durchaus üblich sei, trifft grundsätzlich zu…“.

 

Wie auch der Sachverständige Dipl.-Ing. M. weist zwar der Sachverständige Dipl.-Ing. W. darauf hin, dass die mit der Nutzung der Klickpedale einhergehende Zeitverzögerung beim Lösen der Füße von den Pedalen sich generell in Gefahrensituationen negativ auswirken kann. Indes verbietet es sich, dieses unzweifelhaft vorhandene Zeitmoment dem Kläger als Mitverschulden im Sinne von § 254 Abs. 1 BGB anzurechnen.

 

Der Bundesgerichtshof hat es in dem Urteil vom 23.04.2020 abgelehnt, dem Kläger eine (mögliche) Fehlreaktion auf das plötzlich auftauchende Hindernis als Obliegenheitsverstoß vorzuwerfen (a.a.O., Rn. 44 - 46). Dies mit der Begründung, er sei ohne sein Verschulden in eine für ihn nicht vorhersehbare Gefahrenlage geraten. War aber aus objektiver Sachverständigensicht die Nutzung des Klickpedalsystems in der konkreten Situation nicht zu beanstanden und kann dem Kläger angesichts des plötzlich auftauchenden Drahthindernisses eine fehlerhafte Reaktion nicht zum Vorwurf gemacht werden, ist damit auch die durch die Verwendung des Klickpedalsystems notwendig verbundene Auslöseverzögerung von rund 0,2 Sekunden kein Umstand, der geeignet wäre, einen Mitverschuldensvorwurf zu begründen. Diese nicht zu vermeidende Auslöseverzögerung ist in das Risiko der Verwendung eines Klickpedalsystems gleichsam eingepreist.

 

Nur hilfsweise weist der Senat darauf hin, dass es auch, selbst wenn statt der Verwendung des Klickpedalsystems die Verwendung der „normalen“ Pedalseite angezeigt gewesen wäre, an der Kausalität der Klickpedalverwendung für den Sturz und dessen Folgen fehlen würde.

 

Der Sachverständige M. hat auch insoweit überzeugend schon in seinem schriftlichen Gutachten vom 24.02.2021 ausgeführt, dass der Geschädigte einen Überschlag und den Sturz in das Stacheldrahthindernis mit höherer Wahrscheinlichkeit nicht hätte verhindern können. Auch bei Nutzung der Flatpedalseite wäre nämlich das Vorschwingen der Beine wahrscheinlich durch den Draht behindert worden.

 

Der Privatsachverständige Dipl.-Ing. W. sieht das in seiner Stellungnahme vom 24.03.2021 grundsätzlich genauso (Bl. 669 d. A.). Indes vertritt der Privatsachverständige hinsichtlich der Folgen eines Sturzes unter Verwendung der „normalen“ Pedalseite die Auffassung, der senkrechte Kopfaufprall des Geschädigten wäre „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ nicht eingetreten, weil die Rotation des Körpers abgemildert worden wäre. Der Sachverständige M. hat sich mit dieser These im Rahmen seiner mündlichen Erläuterung des Gutachtens am 07.09.2021 intensiv auseinandergesetzt; dies u.a. auch durch die im Termin überreichte Tischvorlage (Bl. 734 ff. d. A.). Anschaulich und nachvollziehbar hat der Sachverständige M. dabei anhand der Skizzen über den möglichen Hergang des Sturzes herausgearbeitet, dass und warum - entgegen den Annahmen des Privatsachverständigen Dipl.-Ing. W. - sich auch bei Verwendung der „normalen“ Pedale ein im Wesentlichen gleicher Unfallablauf mit vergleichbaren Folgen ergeben hätte. Selbst wenn es dem Geschädigten nämlich noch gelungen wäre, seine Beine und Arme nach vorne zu schwingen, um den Sturz doch noch abzufangen, wären jedenfalls die Arme durch das Stacheldrahthindernis quasi abgefangen worden, mit der Folge, dass auch dann der Geschädigte mit dem Kopf voran auf den Boden aufgeschlagen wäre. Im Übrigen steht weder fest, ob die Füße nach dem Sturz noch eingeknickt waren, noch wie genau und ggf. mit welchem Winkel der Geschädigte mit dem Kopf aufgeprallt ist.

 

Dagegen haben letztlich weder der beratend für die Beklagte zu 1) im Sitzungssaal anwesende Privatsachverständige Dipl.-Ing. W. noch die Beklagte zu 1) selbst remonstriert.

 

Ein Mitverschulden des Geschädigten nach § 254 BGB lässt sich nach alledem nicht feststellen.

 

5. Der Senat hält ein Schmerzensgeld in Höhe von (insgesamt) 800.000,00 € für angemessen, aber auch ausreichend.

 

Die ursprüngliche Mindestvorstellung des Klägers hinsichtlich des Schmerzensgeldes, die sich auf 500.000,00 € belief, bindet den Senat nicht, vielmehr ist dem Gericht nach allgemeiner Meinung „nach oben keine Grenze gezogen“ (Zöller-Greger, ZPO, 33. Aufl., § 253, Rn. 14 m.w.N.). Ohnehin hatte der Kläger mit Schriftsatz vom 23.04.2021 hinsichtlich der Höhe eines zuzuerkennenden Schmerzensgeldes darauf hingewiesen, dass u.a. bei Schwerstschäden die Tendenz in der Rechtsprechung zu deutlich höheren Schmerzensgeldbeträgen geht, zudem zu berücksichtigen sein dürfte, dass in der weiter anhaltenden Niedrigzinsphase kaum Möglichkeiten bestehen, auskömmliche Erträge durch Anlage eines Schmerzensgeldbetrages zu erzielen.

 

Auch dieser Umstand sei ggf. erhöhend zu berücksichtigen.

 

Trotz des ergänzenden Antrages des Klägers, ggf. auch auf eine Schmerzensgeldrente zu erkennen (zur Notwendigkeit eines solchen Antrages vgl. Jäger/Luckey, Schmerzensgeld, 10. Aufl. 2020, Rn. 38 und 1738, jeweils m.w.N.) hat der Senat davon abgesehen, neben dem üblichen einmaligen Kapitalbetrag zusätzlich auf eine Schmerzensgeldrente zu erkennen, wobei in der Summe sich diese Beträge ohnehin rechnerisch entsprechen müssen. Dem liegt insbesondere zugrunde, dass der Kläger im Rahmen seiner persönlichen Anhörung geäußert hat, er wolle (möglicherweise) „von dem Geld einen behindertengerecht umgebauten Fernreisebus anschaffen“; dies zur Begleitung seines sozialen Engagements für behinderte Kinder in Russland.

62Im Hinblick darauf hält es der Senat für richtig, von der Verrentung eines Teils des zuzuerkennenden Schmerzensgeldes abzusehen und dem Kläger - wie üblich - einen einmaligen Kapitalbetrag zuzusprechen.

63Bei der Bemessung des Schmerzensgeldbetrages hat sich der Senat von folgenden Erwägungen leiten lassen:

64Der jetzt 44 Jahre alte Kläger hat im Alter von 35 Jahren ohne jedes Verschulden schwerste Verletzungen erlitten. Der Kläger ist von einem Moment auf den anderen aus einem aktiven Berufsleben mit ebenso aktiver Freizeitgestaltung zu einem lebenslangen Schwerstpflegefall geworden. Sein Leben ist in jeder Hinsicht vollständig „auf den Kopf“ gestellt worden. Er bedarf zeitlebens einer Rund-um-die Uhr-Betreuung, wobei er seine Pflege durch mittlerweile neun Betreuungskräfte auch noch im Rahmen eines Arbeitgebermodells selbst organisieren muss.

65Der Senat hat sich durch die Anhörung des Klägers im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 07.09.2021 erneut selbst ein Bild von der aktuellen Situation des Klägers machen können. Irgendwelche gesundheitlichen Verbesserungen sind dabei erkennbar nicht eingetreten, vielmehr ergeben sich aus der Tatsache, dass der Kläger zur Fortbewegung auf einen hochtechnisierten Rollstuhl, den er mit dem Kinn steuert, angewiesen ist, weitere negative gesundheitliche Folgen. Glaubhaft hat der Kläger geschildert, dass er mittlerweile häufiger an Schmerzattacken leidet, dadurch bedingt an Schlaflosigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten. Seine Inkontinenzprobleme haben sich in den letzten Jahren deutlich verschlechtert. Hinzu kommen psychische Probleme in Form von Depressionen und einer Angststörung. Die Beziehung zu seiner ehemaligen Freundin ist an den äußerst schwierigen Umständen nach dem Unfall zerbrochen; die Familienbeziehung des Klägers zu seinem Vater ebenfalls, weil der „das Elend nicht jeden Tag mehr mit ansehen konnte“.

66Dem Senat ist klar, dass der immaterielle „Schaden“, also das unfallbedingte Leid des Klägers, mit Geld überhaupt nicht aufzuwiegen ist. Auch kommt in Fällen wie diesen die im Vordergrund stehende Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes naturgemäß nur beschränkt zur Wirkung.

67Gleichwohl möchte das ausgeurteilte Schmerzensgeld dem Kläger, der ansonsten materiell zumindest weitgehend über seinen ehemaligen Dienstherrn abgesichert zu sein scheint, sonst nicht finanzierbare Annehmlichkeiten ermöglichen, die unter Umständen geeignet sind, seine Situation ein wenig erträglicher zu gestalten. Dazu könnte die Anschaffung eines behindertengerecht eingerichteten Fernreisebusses - wie vom Kläger beabsichtigt - beitragen. Trotz seiner schwerwiegenden physischen und psychischen Beeinträchtigungen ist der Kläger offenbar gewillt, sein Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Dazu gehört auch sein umfangreiches soziales Engagement und die Aufnahme eines Studiums an der … Universität.

68Der zuerkannte Schmerzensgeldbetrag bewegt sich an der oberen Grenze dessen, was in der bundesdeutschen Rechtsprechung an Schmerzensgeldern zuerkannt wird. Unabhängig von der allgemeinen - vom erkennenden Senat gebilligten - Tendenz, bei schwersten Dauerschäden - wie hier - (deutlich) höhere Schmerzensgelder zuzubilligen (vgl. Jaeger/Luckey, Schmerzensgeld 10. Aufl. Rn 16 m.w.N.) als in der Vergangenheit, passt sich der dem Kläger zuerkannte Betrag gleichwohl auch in die Rechtsprechung zur Schmerzensgeldhöhe ein.

69So hat bereits das LG Kiel im Jahre 2003 (LG Kiel 6 O 13/03, Urteil vom 11.07.2003; rechtskräftig) in einem ähnlichen Fall einem zum Unfallzeitpunkt 3-jährigen Kind einen Schmerzensgeldkapitalbetrag von 500.000,-€ zuzüglich einer monatlichen Schmerzensgeldrente von 500,-€ zuerkannt. In jüngerer Zeit hat das OLG Oldenburg (5 U 196/18, Urteil vom 18.03.2020; MedR 2020, S. 926 ff.) einem durch ärztliche Behandlungsfehler dauerhaft schwerstgeschädigten Kind ein Schmerzensgeld von 800.000,-€ zugesprochen.

70Weiter ist zu berücksichtigen, worauf auch Jaeger in seiner Besprechung des Urteils des OLG Oldenburg (MedR 2020, S. 930 ff) hinweist, dass infolge einer deutlich über 2% liegenden Inflationsrate und bei einer Anlage des Geldes in banküblicher Form zu zahlender Negativzinsen Kapitalbeträge permanent an Wert verlieren, was bei der Zumessung eines Kapitalbetrages unter den derzeitigen Kapitalmarktbedingungen zu dessen Erhöhung führen muss.

71Nach dem Vorstehenden rechtfertigt sich auch das Feststellungsbegehren hinsichtlich etwaiger materieller und weiterer immaterieller Schäden nach § 276 ZPO. Es liegt auf der Hand, dass der Kläger aufgrund seiner unfallbedingten Verletzungen u.a. vermehrte Bedürfnisse i. S. v. § 843 Abs. 1 BGB hat, die derzeit noch außergerichtlich geltend gemacht werden.

Hinweis:

Mit Urteil vom 10.8.2017 war der Senat zunächst von einer 75 %igen Mitverschuldensquote des Klägers ausgegangen. Die dagegen vom Kläger am 24.8.2017 eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde bestätigte zwar die Haftung der Beklagten dem Grunde nach, wegen der Mitverschuldensquote (maximal 25% zum Nachteil des Klägers wegen der Nutzung der Klickpedale) wurde die Sache jedoch mit BGH-Urteil vom 23.4.2020 (III ZR 251/17) zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an den Senat zurückverwiesen.